Dr. Ernstfried Hanisch

FAQ

Dr. Ernstfried Hanisch

FAQ

Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend (Leseprobe aus meinem Buch)

aus den FAQ • Lesezeit: 4 Minuten • Autor: Hr. Dr. Hanisch

Um die Bedeutung von erfüllten Grundbedürfnissen zu verstehen, betrachten wir einmal eine idealisierte Vorstellung von optimalen Entwicklungsbedingungen für einen heranwachsenden Menschen: Wenn wir geboren werden, benötigen wir zunächst einen sicheren Platz. Unsere Eltern oder andere konstante Bezugspersonen versorgen uns mit allem Notwendigen. Im Idealfall sind sie selbst in einer guten Verfassung, leben im Einklang mit ihren Bedürfnissen, unterstützen sich gegenseitig und gehen liebevoll miteinander um. Sie heißen uns willkommen, begegnen uns mit Liebe, sind da, wenn wir sie brauchen. Sie haben feine Antennen für die verschiedenen Nuancen unseres Geschreis und speisen uns nicht ab, wenn wir gestreichelt werden wollen.

Wir bauen eine intensive Bindung zu ihnen auf, erkennen ihren Geruch, ihre Stimme, ihr Lächeln. Alles dreht sich - könnte man in dieser Zeit meinen - nur um uns. Essen, trinken, schlafen, kuscheln, jauchzen, schreien, getragen werden, rülpsen, pupsen, in die Windeln machen. Wir fühlen uns sicher und geborgen.

Unsere Entwicklung folgt unserem genetischen Programm: Wir werden allmählich neugierig. Betasten, nehmen in den Mund, krabbeln herum. Erweitern unseren Horizont, ahmen nach, lernen gehen und sprechen. Die Eltern sind immer in der Nähe, eilen herbei, wenn wir in Gefahr sind, behalten uns im Blick, wenn wir weglaufen, und verstehen und trösten uns, wenn wir Angst bekommen oder uns wehgetan haben.

Unser Lebensraum wird größer. Wir beginnen auszuprobieren. Im Spiel – allein, mit Geschwistern, in der Krabbelgruppe oder im Kindergarten - erproben wir unsere neu entwickelten Fähigkeiten. Wir ernten Lob für unsere Bemühungen. Die Eltern reagieren nicht enttäuscht auf unsere ersten Misserfolge, unterstützen uns, wo wir Hilfe brauchen, und ermutigen, uns neuen Herausforderungen zu stellen. Sie überfordern uns nicht mit immer neuen Spielsachen oder Technik, die wir nicht begreifen können. Sie blockieren nicht unsere Phantasie mit virtuellen Welten, die sich Erwachsene für Kinder ausgedacht haben. Sie unterbrechen uns nicht bei konzentriertem Spiel, und sie gehen auf unsere neugierigen Fragen ein. Sie verstehen uns, auch wenn unsere Welt ganz anders ist, als die der Erwachsenen. Sie fühlen sich ein, obwohl wir uns eher durch unser Verhalten als mit Worten ausdrücken, lassen unsere Gefühle gelten, versuchen nicht, sie uns auszureden. Die besondere Achtsamkeit unserer Eltern gilt unseren Bedürfnissen. Es ist erlaubt sie zu haben und zu äußern, auch wenn sie nicht immer oder nicht immer gleich erfüllbar sind. Dabei lernen wir, Frustrationen zu ertragen und werden ermutigt, uns für die Erreichung längerfristiger Ziele anzustrengen.

Wir entwickeln allmählich einen eigenen Willen, wollen selbst bestimmen. Unser trotzig genanntes „Nein“ wird ernst genommen, die Eltern halten es aus, wenn wir uns ihnen entgegenstellen, setzen nicht ihre Macht ein, sondern sprechen mit uns. Sie setzen klar und konsequent Grenzen, an denen wir uns zuverlässig orientieren können. Wir lernen Regeln und Normen, für deren Einhaltung die Eltern – soweit es ihre Erwachsenenrolle erlaubt – ein Vorbild sind. Durch die Erfahrung von Grenzen und Regeln – auch im Kontakt mit anderen Kindern - erschließt sich ein fruchtbares Feld für soziales Lernen, für Einfühlung, kooperatives Verhalten mit Geschwistern oder Spielkameraden, für Solidarität, Selbstachtung und angemessene Selbstbehauptung.

Mit jedem Lernschritt erwerben wir ein Stück größerer Unabhängigkeit. Es wächst unserer Zutrauen in eigenes Handeln, im Rahmen unserer altersgemäßen Möglichkeiten können wir für uns selbst sorgen, Alltagsprobleme lösen und uns neuen Aufgaben stellen. Mit der Erweiterung unserer Handlungsspielräume erfahren wir, dass wir auf das, was passiert Einfluss nehmen können. Unsere wachsende Überzeugung, dass wir durch unserer Handeln unser Gleichgewicht stabilisieren und unseren Zielen näher kommen, befriedigt eines der zentralsten Bedürfnisse: nach Macht und Kontrolle. Unsere Eltern lassen uns machen, geben uns Freiräume, greifen nicht ein, wenn sie eine Aufgabe besser oder schneller lösen können. Wir gewinnen Selbstvertrauen und Autonomie.

Ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis entfaltet sich schon ab den ersten Lebensjahren: Das Bedürfnis nach erotischem Lustgewinn. In natürlicher Weise erkunden wir unsere erogenen Zonen, genießen die Stimulation, entdecken die Unterschiede zum anderen Geschlecht. Auch unser sich entwickelndes Bedürfnis nach Intimität, nach Achtung unserer natürlichen Schamgrenzen wird ernst genommen. Wir spüren, wenn wir eine Berührung oder Zärtlichkeit nicht wollen und können dies zum Ausdruck bringen.

Mit unserem Wissen um die eigene Identität und unser Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gehen wir neue soziale Bindungen ein, erleben die Zugehörigkeit zu Gruppen Gleichaltriger, gehen Liebesbeziehungen ein und grenzen uns gegenüber den Eltern und anderen Erwachsenen ab. Die Eltern reagieren nicht gekränkt oder enttäuscht, halten es aus, wenn wir sie in Frage stellen und uns von ihnen lösen. Sie begleiten uns wohlwollend auf unserem mühsamen Weg zum Erwachsenwerden. Krisen, Konflikte, Krankheiten, Ängste, Zorn, Trauer und Selbstzweifel bleiben uns nicht erspart, sie bieten uns jedoch wichtige Wachstumsimpulse, und wir gehen gestärkt aus ihnen hervor.

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