Dr. Ernstfried Hanisch

FAQ

Dr. Ernstfried Hanisch

FAQ

Wie entstehen seelische Verletzungen? Welche Muster oder Schemata können daraus entstehen?

aus den FAQ • Lesezeit: 3 Minuten • Autor: Hr. Dr. Hanisch

Wenn ein Mensch unter Bedingungen aufwachsen kann, wie bei Frage 2 (Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend) beschrieben, und ihn/sie keine dramatischen Schicksalsschläge ereilen, kann er/sie sich zu einer stabilen, selbstbewussten Persönlichkeit entwickeln. Wurden aber zeitweise oder dauerhaft zentrale Bedürfnisse nicht erfüllt oder verletzt, kann das bleibende Spuren hinterlassen, ähnlich einer nicht verheilenden Wunde. Ein Kind, das bei seiner Geburt nicht willkommen war, das keine oder wenig liebevolle Zuwendung bekommen hat, das körperlich gezüchtigt oder sexuell missbraucht wurde, das sich gegenüber anderen oft zurückgesetzt fühlte, das von wichtigen Bezugspersonen verlassen wurde, an dem nur herumkritisiert wurde, dem man nichts zugetraut hat, das mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen nicht ernst genommen wurde – um nur einige besonders belastende Beispiele zu nennen – nimmt Schaden und muss versuchen, damit irgendwie zurecht zu kommen. Wenn solche negativen Erinnerungen später wiederaufleben, geschieht dies durch die Berührung „wunder Punkte“, man fühlt sich wieder wie in der früheren Bedrohungssituation, hilflos, wütend, wertlos wie damals als Kind und reagiert entsprechen mit unterschiedlichen Maßnahmen, um sich zu schützen.

Diese Reaktionen folgen wiederkehrenden Mustern oder Schemata, die sich im Laufe unseres Lebens verfestigen können und Teil unseres Selbstverständnisses werden („Ich bin halt so!“).

Wenn solche ungünstigen Schemata unsere zwischenmenschlichen Beziehungen dauerhaft und nachhaltig stören, kann dies ein Hinweis auf eine sog. Persönlichkeitsstörung sein. Der amerikanische Psychologe Jeffrey Young hat Kategorien von „maladaptiven Schemata“, sog. Lebensfallen herausgearbeitet, in denen z.B. die Problematik von Borderline-Störungen als Zusammenspiel von alten Schemata und sich rasch verändernden emotionalen Zuständen beleuchtet wird.

Schemata wenden wir automatisch an, wenn wir mit einer bestimmten Situation konfrontiert sind. Sie helfen uns, die Welt und uns selbst als etwas Vertrautes wahrzunehmen. Sie sind das Fundament für unsere Orientierung in der Welt. Schemata bilden sich aus der Summe der Erfahrungen unserer Lebensgeschichte. Sie sind geprägt durch Vorbilder und spiegeln die Art und Weise, wie mit uns umgegangen wurde und wie wir gelernt haben zu reagieren. Positive wie negative Erfahrungen werden in ihnen verarbeitet und gespeichert. Die entstandenen Muster werden solange aufrechterhalten, bis eine veränderte Wirklichkeit ihre Anpassung erfordert. Dies kann irritierend oder ängstigend sein. Wir halten daher nicht selten an ihnen fest, weil sie uns vertraut sind, auch wenn sie uns mehr Schwierigkeiten bereiten als Nutzen bringen. Was nicht in das vorhandene Schema hineinpasst, wird ausgeblendet oder umgedeutet. Ist aber ein Schema sozusagen veraltet und der heutigen Situation nicht mehr angemessen, trübt es den Blick auf die Möglichkeiten der Gegenwart. Es gibt also angemessene und ungünstige Schemata.

Wer beispielsweise überzeugt ist, nur dann ein wertvoller Mensch zu sein, wenn er beruflich Erfolg hat, filtert aus, was ihm sonst noch zu einem Wertgefühl verhelfen könnte und handelt einseitig nach der Regel: „Ich muss mich anstrengen, fleißig sein, meine Karriere planen, Statussymbole erwerben …!“ Schon kleine Misserfolge führen dann zu Verunsicherung und Selbstzweifeln und zu mehr oder weniger geeigneten Schutzmaßnahmen. In diesen Momenten könnten wir meinen, wir machten aus einer Kleinigkeit eine große Affäre, also sprichwörtlich aus einer Mücke einen Elefanten, sind uns aber nicht im Klaren, dass wir in einem wichtigen Bedürfnis verletzt wurden. Dies erklärt den Titel meines Buches: Ein Elefant, der in der Mücke steckt, hat seinen Ursprung in negativen Erfahrungen im Umgang mit wichtigenBedürfnissen in verschiedenen Lebensaltern. Die Aktivierung eines Schemas erfolgt schnell und ohne bewusst wahrgenommenen Grund. Man erlebt negative Gefühle, stößt auf Unverständnis oder findet sich selbst als zu empfindlich. Statt uns zu fragen, was wir in einer unangenehmen oder verletzenden Situation wirklich brauchen, versuchen wir, so rasch es geht, sie loszuwerden bzw. uns vor negativen Gefühlen zu schützen. Den meisten Menschen fällt es erfahrungsgemäß schwer, mückenhafte Ereignisse als Hinweise auf grundlegende Bedürfnisse, die verletzt wurden, zu erkennen.

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